Die Nützlichkeit unschöner Gefühle
In unschönen Dingen steckt mehr Nützliches und Erhellendes, als man vielleicht gewillt ist zuzugeben, wenn man noch glaubt, diesen Dingen entkommen zu können. In ihnen steckt ein Teil des Lebens, auf den wir sonst nicht gestoßen wären. Erfahrungen halten Informationen über uns selbst und die Welt um uns herum bereit. Sie nach dem ersten Eindruck einer unvorteilhaften Gestalt zu beurteilen, beraubt uns des inneren Wertes dieser Erfahrung.
Sei es eine angestrengte Unterhaltung, eine monotone Aufgabe oder eine sich erfolglos anfühlende Woche; es gibt immer Momente, über die es keinen Spaß bringt zu reflektieren. Was soll es auch bringen über sie nachzudenken? Diese Frage stellt sich, bis man jemanden trifft, dessen ganzes Leben sich wie die eigenen frustrierendsten Momente gestaltet, ohne dass derjenige davon auch nur die geringste Notiz zu nehmen scheint und man sich beginnt zu fragen, ob dieses Schicksal nicht jedem zustoßen könnte. Was wenn sich vorübergehende Langeweile in unendliche Eintönigkeit verwandelt?
Sobald das Quälende, Vorhersehbare und Stumpfsinnige als unerwünscht erkannt wurde, ist es leicht, jeden Anflug eines Gedankens daran so schnell wie möglich verbannen zu wollen. So ein Gedanke würde einem vor Augen führen, wie man nicht leben und was man nicht sehen will.
Damit vergeht jede Chance die Sache an sich zu ändern. Das Gefühl wurde lange genug gefühlt, um zu beschließen, es nicht weiter als nötig verspüren zu wollen. Sehr viel angenehmer fühlt es sich an, das Irritierende aus dem Kopf zu verstoßen. Scheinbare Freiheit wird erreicht – aber nur bis zur nächsten Situation, die ein Gefühl hervorruft, das verstoßen werden muss, weil nie darüber nachgedacht wird und dessen Ursprung deswegen unveränderlich wird.
Die im Gefühl- und Gedankenverstoßen gefundene Freiheit entpuppt sich als Spießrutenlauf peitschender Erinnerungen, denen nur Ablenkung und Vernebelung beikommen können. Verschüttet wird die Motivation zur Veränderung mit dem Begräbnis des dazugehörigen unschönen und unerwünschten Gefühls.
Solange man noch nicht den Spaß daran entdeckt hat, herauszufinden was sich hinter einer neuen Gelegenheit verbergen könnte, sind Bewerbungsgespräche und neue Jobs gruselige Angelegenheiten. Gleichzeitig muss man zugeben, dass Jobanzeigen und Bewerbungsgespräche wenig über die Realität der Arbeit verraten und wenn sie es doch tun, die Wahrheit meist zwischen den Zeilen liegt. Im Grunde kauft man die Katze im Sack und ergeht sich in Spekulationen.
Stellt sich ein solches Erlebnis als wenig erfreulich heraus oder wird sogar einer antizipierten Horrorvorstellung gerecht, birgt es trotzdem das Potential, die Augen dafür zu öffnen, was „nachteilig“ wirklich nachteilig macht und welche sonst gewöhnlich anmutenden Annehmlichkeiten sich im konkreten Vergleich als nicht zu vernachlässigende Vorteile herausstellen. Bei der Arbeit nicht auf Toilette gehen zu dürfen, erleichtert einem die Erkenntnis, wie schön es ist sich Blasenkrämpfe zu ersparen. Zudem lassen sich von schlechten Erfahrungen gute Geschichten erzählen. Und wer will in seinem Leben nichts erlebt haben?
Jede Information – auch eine, die aus der Erfahrung des Unangenehmen, Absurden und Skurrilen stammt – ist relevant, weil kein Maß an Vorstellungskraft es mit der Unvorhersehbarkeit und Komplexität der realen Welt aufnehmen könnte. Nichts ersetzt die Realität. Daher kann man über Möglichkeiten noch und nöcher phantasieren und doch nie wissen, worüber man sich aus der simplen Erfahrung hätte sicher sein können. Mit der Erfahrung entgeht einem die Gewissheit dieses Wissens.
Die Klarifizierung des Echten, des Unangenehmen und Ungewollten kann einen Motivationsschub zum vorher undeutlichen Gewollten verursachen. Die Erfahrung der Realität einer nachteiligen Option kann weit mehr Antrieb verschaffen, als es einer hypothetischen Betrachtung der Möglichkeiten jemals möglich sein kann.
Das Einzige, das direkter Erfahrung im Weg steht, sind Angst und Vorsicht. Während die Vorsicht Sicherheit gewährt, ist Angst, sofern Sicherheit gewährleistet ist, ein Hindernis, weil mit Rücksicht auf sie, die kristallklare Information des direkt Erlebten in weite Ferne, ins Reich reiner Möglichkeiten rückt. Die Angst muss übergangen werden, wenn sie keinen Zweck erfüllt. Man muss versuchen, sie nicht als Ausrede zu nutzen. Die Grenze zwischen guter und schlechter Angst zu finden ist unsere Aufgabe, um wahrhaftig zu leben und dabei zu überleben. Sicherheit schließt Wachstum nicht aus, aber zu viel Unsicherheit schließt freie Entfaltung aus.