Fragen über Fragen

Kleid

Ein Schloss in Frankreich. Ein schwarzes Kleid. Ein feierlicher Anlass. Nicht zu ernst. Eine Kunstausstellung. Mit einem kleinen, weißen Citroen fahre ich auf alten Straßen über Land. Harvier ist mit seinem Bus liegen geblieben. Ich bringe die Werkzeuge. Madame Marianne hat mich angekündigt. Vom Pariser Flughafen sind mehrere Gäste eingetroffen. Harvier hat sie zusammen mit seinem Bus im Gepäck.

Harvier kann reparieren. Er soll nehmen, was er braucht. Ich habe alle Werkzeuge mitgebracht, die ich finden konnte und die ins Auto passten. Ich habe den Rasentrimmer nicht mitgenommen, aber wozu braucht man auch eine Motorsense, um ein Auto zu reparieren? Kann nicht sein. Harvier ist zufrieden. Er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er grinst mich an, wie die Partie da im blassen Sonnennebel steht, und verwickelt mich in ein Gespräch, während ich noch im Auto sitze, als wäre das Problem bereits durch meine Ankunft, bzw. die der Werkzeuge, gelöst. Ich hole mein bestes Französisch heraus und palavere im Alltagsgeplapper über die uns umrundende Situation. Ich bin zu froh und sehr gut aufgelegt, wahnsinnig ungeduldig. Ich sehe mich selbst schon einen Fehler machen. Irgendwo hängen bleiben, irgendwo drüber stolpern, mich kratzen, klemmen oder verdrehen. Wie findet man Ruhe in der Fröhlichkeit? Ist meine Fröhlichkeit so verzweifelt, dass sie so schnell raus muss, dass sie mich in einem viel zu schnellem Tempo mitschleift, mitreißt und umhaut? Ist meine Fröhlichkeit so gefährlich? Werde ich sie niemals genießen können? Muss ich mich immer vor ihr in Acht nehmen? Ist Fröhlichkeit allgemein nicht akzeptiert? Ich komme gut mit Menschen aus, wenn ich traurig resigniert bin, weil ich dann ausgeglichen und geduldig bin – von Natur aus. In allen anderen Fällen ist meine Geduld nur vorgetäuscht, weil ich eigentlich der springende Typ Person bin.

Unter Anspannung aller Kontrolle kann ich meine zum Nervösen treibende Ungeduld soweit repressieren, dass ich mich weder in der Autotür klemme noch meinen Kopf am Türrahmen stoße oder über meine eigenen Hacken stolpere. Ich schaffe es weiterhin eine Strecke auf der mit Schottersteinen versehenen ländlichen Straße zu laufen und mich nicht von Schottersteinen aufhalten zu lassen oder auf meiner Nase zu landen. Welche Konzentration einfache Hindernisse erfordern können, wenn einen das Glück durcheinander wirbelt. Nicht vergessen, zu atmen. Aber die Füße sind weiter entfernt als die Lungen. Ich gehe um das Auto herum. Ich will die Heckklappe öffnen, aber Harvier wühlt bereits im Kofferraum und ich kann nur daneben stehen und erklären, warum ich was mitgebracht habe und was sich wo befindet. Eine Erklärung, die die meisten Leute als überflüssig befinden würden. So stehe ich da und gebe mich dem Gewöhnlichen hin. Ah je. Alle Schemen um mich herum sind schwarz und stehen am Bus, wartend auf die Weiterfahrt. Sie sind die Gestrandeten. Die Gestrandeten sind fast gestaltlos, wenn ich genauer hinsehe, und sie sind gesichtslos, eine Masse der schwarzen Silhouetten. Eine Einheit der geformten Hintergrundmusik. Als Einheit sind sie definiert, und zierlich in der Präzision ihrer Umrisse. Ihre Umrisse sind ein Scherenschnitt gegen die goldenen Strahlen hinter ihnen.

Die Dämmerung setzt ein, aber die Sonne braucht ewig, um uns zu verlassen. Das Pflaster wird nicht schnell abgerissen. Sie macht es ganz langsam, sodass die ganze Zeit in Gold getaucht wird. Nichts ist definitiv. Mein Gast ist mit von der Partie. Alle anderen interessieren mich nicht. Sie sind normale Gäste, die mit Höflichkeit behandelt werden müssen – nicht mit Überschwang. Diese Höflichkeit muss ich mir immer wieder vor Augen führen, um nicht zu vergessen, dass sie womöglich eine gewisse Aufmerksamkeit als Reaktion auf ihr Erscheinen erwarten. Meine ganze Aufmerksamkeit gilt Louis. Wie in einem Traum habe ich ihn hierher teleportiert. Vielleicht ist es alles nur ein Traum. Im Haus steht ein Zimmer für ihn bereit; groß & schön & luxuriös, die perfekte Ablenkung von Zuhause. Durch eine Tür sind unsere Zimmer verbunden. Durch die Türen über den Flur kann man auch gehen.

Unten ist die Empfangshalle. Dort empfange ich edle Gäste mit einem dezenten Lächeln und manchmal kann ich andere Sprachen sprechen. Louis’ Sprache kann ich nicht sprechen – ist auch nicht nötig. Wie oft habe ich mir vorgestellt, ihn durch die große Empfangstür kommen zu sehen, mit Harvier in seiner Begleitung und lachend & redend. Manchmal hat er seine Tasche in einer Ecke neben der großen Holztür abgestellt und ganz in schwarz gekleidet auf uns geschaut, um etwas zu erkennen, das ihm vertraut sein könnte. Ein anderes Mal hat Harvier ihn unter seine Fittiche genommen und in den Raum geleitet. Dann ist er plötzlich neben mir aufgetaucht und hat gesagt: „Dein Besuch ist angekommen“ & hat sich mit einem Augenzwinkern elegant trotz seines bärigen Erscheinens zwischen den Damen und Herren in die Freiheit entfernt. Louis kommt nicht in meine Nähe, aber sobald ich die Begrüßungen & Ticketüberprüfungen von mir halten kann, stürze ich, soweit es der Dress- & Verhaltenskodex erlauben, ins Abseits, um in eine wilde Umarmung auszubrechen bzw. zivilisiert Küsschen auf beiden seinen Wangen anzubringen. Wie ich lieber das nicht tun würde. Es ist merkwürdig, Louis im Gesicht zu „küssen“, besonders zur Begrüßung. Seine Hände dabei vor mir zu halten, ist noch viel merkwürdiger; als wären wir ein Liebespaar, kein Rabaukenpaar, das wild schwingend durch die Gegend zieht. Ich packe sein Gepäck & wuchte es die Treppe hoch, aber Louis lacht mich auf seine unterhaltsame Art beinahe aus & übernimmt, nachdem er mir mitgeteilt hat, dass das nun wirklich lächerlich wäre in meinem Aufzug. Er bringt mich immer zum Lachen. Bevor ich die Treppe runterfalle, sind wir oben & entledigen uns der schweren Sachen. Ich zeige ihm alles & er ist mächtig beeindruckt. Er könnte so lange bleibe, wie er wollte. Er kann nicht für immer bleiben, aber das liegt nicht an mir. Es ist Zeit sich auszuruhen, die Landschaft zu genießen, die winterliche Sonne zu beobachten & das Leben zu genießen. Ich sause herunter, um weiter zu machen, um einiges glücklicher als zuvor.

Málaga
16.01.2023
Copyright Hannah Knaack-Völker
Alle Rechte vorbehalten.

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