Strand
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Strand. Der Mond geht hinter den Wolken auf. Staircase to heaven. Schwarz. Groß. Jetzt ist er wieder hinter den Wolken. Ich sehe van Goghs Himmel, die Kreise um den Mond und die Streifen auf dem Wasser. Die Linien wie Pinselstriche. Der Mond ist so groß, wie die Sonne. Víctor hat mich hängenlassen. Ich weiß nicht, ob ich je mit dem Mann zusammen sein könnte. Ich hätte zu viel Angst. Der Mond ist entschwunden. Hinter graue Wolken. Hinter den Bergen und über den Wolken ging ein Licht auf; so groß, dass ich mich fragen musste, was es sein könnte. Aber es musste der Mond sein. Der fast volle Mond, so groß und rund wie ein Vollmond. Man sah kein Stück, dass der Vollmond schon gestern gewesen war. Jetzt kommt er aus dem Grau der Nacht hervor, auch wenn nicht viel zu sehen ist. Víctor hat es nicht geschafft zu unserer Telefonverabredung.

Vielleicht hätte ich ihm sowieso nichts zu erzählen gehabt, außer dass ich die Kunst nicht aufgebe, dass ich kein „normales“ Leben führen kann, dass ich nicht weiß, wie Künstler Geld verdient haben, aber dass sie gelebt haben bis sie 90 waren (Picasso und Miró zumindest). Was kann ich Víctor schon sagen? Dass ich ihn aus reiner Selbstliebe hören will? Dass ich in meinem Kopf Gespräche mit ihm führe, wenn er nicht für mich da ist? Dass ich ihn nicht belästigen mag, weil ich ihn stören könnte? Dass ich mich über jedes Wort freue, das er auf mich „verschwendet“? Dass ich mir alles vorstellen und mich nicht mehr bewegen kann? Dass er mich paralysiert und mich erfreut? Das passiert mir, wenn ich jemanden mag. Jemanden zu mögen, bedeutet eine Tür für Verletzungen zu öffnen. Alles, was jetzt schiefgeht, kann wehtun. Alles, was jetzt durch die Tür geht, geht direkt in mein Herz. Man muss radikal sein, um zu lieben. Man muss radikal sein, um zu leben. Man muss radikal sein für die Kunst & für die Kunst leben? Was bleibt mir, wenn ich nur mir selber bleibe? Dann bleibe ich nur mir und mir bleibt nur die Kunst. Was ist Kunst?

Es gibt keinen anderen Trost, wenn ich mich hängengelassen fühle. Wenn ich alleine bin, habe ich keine andere Wahl, als für mich alleine zu leben. Wenn ich alleine lebe, kann ich nur leben, um für die Kunst zu leben, für mich selbst zu leben. Dann bleibt es keine Option mehr, mein Glück aus der Zufriedenstellung anderer zu beziehen. Dann bin ich radikal ich selber. Ich kann nur ohne Víctor ich selber sein. Ein Mann in meinem Feld verändert mich. Ein Mann in meinem Feld beschäftigt mich. Ein Mann, mein Mann, zieht alle meine Aufmerksamkeit auf sich ohne dass er es weiß. Welche Art der Selbsttortur ich präferiere. Vielleicht muss es so sein. Es ist kein Problem. Ich muss lernen, selbstständig zu sein. In der Selbstständigkeit liegt die Kraft. Nur alleine bin ich stark. Ich will sein, ich will ich sein und ich will stark sein, bevor ich mich offenbare.

(Neulich wollte ich Víctor anrufen und er hat seine Schwester gepflegt. Ich wollte ihn hören. Ich wusste, es war nicht der Abend, an dem es passieren würde. Heute habe ich mich mit der Vorstellung der Enttäuschung getragen, als hätte ich „gewusst“, dass sie kommen würde. Ich habe mich enttäuscht gefühlt, bevor es soweit kam.

Die Angst vor der Enttäuschung ist schlimmer, als die Antizipation der Freude. Und beides macht mich kirre. Aber das eine ist erfreulich und das andere nicht. Ich wünschte, ich könnte mit Enttäuschung umgehen – stattdessen lebe ich in Angst. Eine Angst, die ich überwinde. Überwinden muss. Unter allen Umständen.)

Málaga
08.01.2023
Copyright Hannah Knaack-Völker
Alle Rechte vorbehalten.

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