Traum
Vollmond über der Bucht von Málaga.
Stille, Ruhe, Lichter, Dunkelheit, „warm“ genug am Strand. Die Dunkelheit ist schön. Schwarz. Ein schnarchender Tunesier aus Paris in meinem Zimmer. Schnarcht zu doll mitten in der Nacht. Als er sich umlegt, hört er Gott sei Dank auf. „Meditation“ in der Nacht während der Schnarcherei. Danach Traum von Javier. Danach „träume ich von Javier“, das erste Mal. Danach schnarcht es wieder. Dann endlich Ruhe. Ich versuche wieder, von Javier zu träumen. Es klappt nicht, aber ich würde so gerne.
Wir fahren irgendwo hin, mit anderen Leuten, auf Schlitten? Skiern? Wir sind zusammen. Wir fahren zusammen, es ist draußen, wir sind Teil einer Gruppe. Javiers Freunde, seine Gruppe, seine Menschen. Was für Menschen? Es sind seine Leute; vielleicht sind wir in seinem Land, bei ihm Zuhause. Es ist seine Verabredung, ich bin dabei.
Javier lebt sein Leben.
Er isoliert sich nicht, glaube ich.
Er lacht. Er liebt die Gruppe.
Er liebt mich. Wir fahren zusammen auf dem Schnee. Wir sind unsere kleine Gruppe (wir: Javier und ich) in der großen Gruppe.
Wir sind in der Gruppe.
Aber wir sind. Er schaut mich an. Mein einziger Fokus ist Javier, ist er. Es gibt so viel zu sehen, alles andere ist Hintergrund.
Alles andere ist „egal“, alles drumherum ist trotzdem wunderschön!
Javier hat die besten Falten, die es gibt, weil es Lachfalten sind. Wie ich ihren Anblick herbeisehne, wie ich dieses Lachen mag, wie ich sein Leben in seinem Gesicht sehe. Wie der Mann so viel attraktiver mit als ohne ist. Javier ist rau und zart zur gleichen Zeit, alles in einem. Er ist außen abenteuerlich und innen empfindsam – schwer zu finden. Ich weiß nicht, ob er tanzen kann.
Ist es wichtig, dass er tanzen kann?
Ich wette, er kann tanzen, wenn er fröhlich ist. Er ist eine Natur, die tanzen mag. Aber, immer „aber“… können wir zusammen tanzen? Können wir uns auf etwas einigen? Ich wette, er kennt was Folklorisches. Wie bildlich meine Vorstellung sich gibt, wie sehr ich ein Bild schon lieben kann, bevor es wahr ist! Javier in Freude ist mir eine Freude. Ich kann nicht beschreiben, wie sich mein Glück anfühlt. Es fühlt sich wie eine Tortur, die nicht enden soll, an. Meine Worte sind nicht zutreffend. Ich kann es nicht fassen. Ich bin außerstande zu erklären, was mich durch und durch erfreut.
(Meine Handschrift wird wie die meiner Mutter. Was bedeutet das?)
Der Traum endet phänomenal. Nur das Wenigste ist klar und das Gefühl ist perfekt. Nichts im Leben ist „perfekt“. Das Gefühl ist besser als das. Mein Kopf liegt in Javiers Arm. Das ist, was ich erinnere. Das einzige des Endes, das ich mit aller Deutlichkeit spüre – und sogar sehe. Ich sehe es mit aller Deutlichkeit und ich spüre es mit allem Glühen auf meinen Wangen, wo ich seine Haut empfinde. Es ist „perfekt“ und ich hasse dieses Wort und mir fehlen die Worte, um alle Empfindungen zu beschreiben, die sich alle reduzieren lassen auf ein einziges Gefühl, dass meine Wangen zum Leuchten bringt. Wie ich es liebe, mich in der Freude zu verlieren und die Illusion zu lieben!
Javier gibt mir die Illusion, glücklich zu sein. Ich könnte nicht glücklicher sein.
Warum will ich nicht näher an ihn heran? Weil das alles kaputt machen könnte. Warum Gewissheit haben, wenn man im Traum leben kann? Warum die Realität verfolgen, wenn die Imagination mehr als zufriedenstellend ist und mich so wahnsinnig zum Frohsinn bringt? Nichts ist mir lieber als eine Vorstellung mit Happy End, am besten ohne „End“. Ein Punkt in der Zeit ist genug. Er muss keinen Anfang und kein Ende haben. Ein Punkt ist keine Linie. Das Beste am Leben ist die Definitionslosigkeit, wenn alles offen und alles möglich und jede Vorstellung erlaubt ist!
Wozu sich in ein Korsett zwingen, wenn man nicht muss? Das Korsett zwängt sich einem von alleine wieder auf.
Der Traum.
Wir befinden uns in einer Winterlandschaft, aber nicht in Skandinavien. Es ist nicht dunkel. Wir haben die wärmsten angebrachten Sachen voller Tradition und Glück und Muster an, doch die größte Wärme kommt von Innen. So ist das, wenn ich denke. Dann wird mir warm.
Wir sind zufrieden in einer Welt voller Schnee. Der Schnee ist getrennt von uns und wir leben in dem realsten vorstellbaren Tagtraum. Javiers Lachen trägt mich für immer. Es gibt nicht genug Worte für „Lachen“. Es ist mehr als das. Es ist ein Glück in der Akustik, ein Charme in der Optik, eine Wärme in der Vibration. Ein Strahlen in alle Richtungen. Etwas, das beschützt werden muss. Aber etwas, das immer wieder generierbar ist; eine Reaktion auf eine unversiegbare Quelle in der Außenwelt, mit der er immer in Kontakt steht. Er hat eine Welt, die ich nicht kenne. Ich habe eine Welt in mir drinnen.
Eine Welt in mir drinnen beinhaltet Javier. Wenn ich ihn malen müsste, wäre es egal, welcher Stil oder welches Zeitalter. Er wäre immer da, im Surrealismus, im Kubismus, im Symbolismus wie im Realismus. Nie wäre er abwesend in dem Bild meines Lebens. In immer anderer Gestalt würde er Raum und Farbe einnehmen und immer anwesend sein und sei es „nur“ in seiner Essenz in einem dunklen Blau, in das ich falle ohne mich zu verlieren oder zu verletzen und trotzdem immer tiefer falle, weil es nie zu Ende ist, weil es immer mehr gibt, in unergründlicher Tiefe. Die Tiefe ist seine Eigenschaft. Die bodenlose Tiefe ohne Ende ist der Raum, die Freiheit, die Unergründlichkeit und ewige Offenheit, die mir gibt, was ich brauche zum Atmen. Zum Leben brauche ich das tiefste, magischste und tragischste Blau, das man sich nur vorstellen kann; eins in dem Elfen und Nymphen leben und die Lichter leuchten. Ich möchte lieben und leben, aber nicht ohne die Magie des Unvorstellbaren, des Mysteriösen. Ich möchte mich so lebendig und traurig fühlen, dass ich in Gold und Glanz dem Dunkelblau trotzen kann, und leuchten kann in all meinem Gefühl ohne zu viel zu sein. Das Beste an Javier ist, dass ich niemals „zu viel“ bin, aber vielleicht habe ich es auch nie ausgereizt.
08.01.2023
Copyright Hannah Knaack-Völker.
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