Traurige Gefühle
Auch wenn Trauer aus keinem schönen Grund existiert und dem Charakter nach ein skrupelloser Glücksgegner ist, kann sie trotzdem, von außen betrachtet, eine schöne Emotion sein – es gibt Menschen, die schön aussehen, wenn sie traurig sind. Trauriges ist, ist nicht unbedingt hässlich. Die Traurigkeit ist klarer als viele andere Gefühle – kompromisslos, unangepasst an Konventionen und Gebräuche, und häufig benachteiligt.
Wer glücklich ist, rebelliert nicht und wer die Trauer verdrängt auch nicht. Außerdem ist es doch viel schöner, glücklich zu sein als traurig. Man wird viel häufiger gefragt, ob man nicht recht glücklich sei und nicht halb so oft, und ohne dieselbe Erwartungshaltung, nach der Traurigkeit. Die meisten solcher Fragen hoffen nur eine von zwei möglichen Antworten zu produzieren oder werfen die Unterhaltung in eine aussichtslose Sackgasse, der sich niemand gerne bewusst wird, der nicht glücklicherweise zumindest mittelmäßige Zufriedenheit verspürt.
Traurige Gefühle können Ruhe mit sich führen, die zu neuer Stärke und anderen Wegen führt, weil der Trauer einiges, was sonst die Sicht versperrt und von ungewöhnlichem Verhalten abhält, reichlich egal ist.
Oberflächliche Gedankengänge sind von einem Moment auf den anderen unterbrochen, abgeschaltet, und die Welt ihrer ablenkenden Verzierungen beraubt. Was bleibt, ist die nackte Wahrheit, der kahle Raum, die blanken Wände – nur was greifbar und real ist, was dem Schock und dem Schreck standhält – einfacher, nicht schöner, und diese sich einbrennenden Erinnerungen sind es, die der Schönheit ihre Tiefe verleihen, wenn Schönheit in die Welt zurückkehrt.
Trauer ist ein stilleres Gefühl als Glück. Sie zu verlieren, tut nicht weh; man muss sie nicht bewachen oder behüten. Die maßgebliche Eigenschaft der Trauer ist ihre Autarkie: Ohne Einladung erscheint sie; bleibt, ohne gebeten zu werden; geht, ohne Leere zu hinterlassen. Sie ist ein pflegeleichter Gast. Sie genügt sich sozusagen selbst. Es reicht ihr, wenn sich der Gastgeber seinerseits traurig zeigt und sie nicht mit diesem elenden Glück belästigt. Glück ist eines der wenigen Gefühle, mit denen die Trauer rein gar nichts am Hut hat und auch partout nicht haben will. Solange dieser Wunsch gewürdigt wird, verhält sie sich recht verträglich und schneller als erwartet sogar versöhnlich. Häufig ist ihr Gehen so langsam und verhalten, dass erst nach einer Weile ihr wirkliches Verschwinden bemerkbar wird, so diskret verwandelt sie sich in andere Gefühle in solch schleichendem Prozess, dass er den wachsamsten Augen entgeht.
Das Abtreten der Trauer macht selten traurig, außer die reizvollen Eigenschaften der ungefärbten Trauer sind zuvor ans Licht gedrungen. Ihre guten Eigenschaften sind Ruhe; Stille; Zentrierung; Aufmerksamkeit; die intensivere Wahrnehmung der inneren Welt; Frieden; die Abwesenheit von Angst und Unruhe, weil Schlimmes schon eingetreten ist und nicht weiter erwartet werden muss; Abgeklärtheit gegenüber anderer äußerer Dramatik, und Schocklosigkeit. Am Nebelmantel der Trauer perlt mehr Tragik ab, die das Innere unbeschadet lässt, als an einer heiteren Brise Glück. Die eigene Trauer macht resilient gegenüber anderer Trauer; fremde Trauer wird erträglich, sogar begreifbar, ohne sie fürchten zu müssen und ihr Phantom einen verfolgen zu wähnen.
Trauer ist nicht verschwommen, nicht verwirrt oder durcheinander. Sie ist wie ein Eissee – kalt und klar. Das Gefühl sticht wie Kälte; solange sie noch zu fühlen ist, ist das Leben nicht aus einem gewichen. Wie im Eissee muss man das Stechen spüren, um am Leben zu bleiben und nicht wegen Organversagens in der Tiefe zu versinken. Am Leben zu bleiben, bedeutet zu ertragen zu fühlen, was zu fühlen ist; nicht taub zu werden, denn kein Schmerz der Kälte mehr, kein schwerer Vorhang der Trauer mehr, gegen den sich die Brust heben muss, und Eissee und Gefühlstod legen ihre kalten Finger um einen.
Solange ich spüre, bin ich am Leben. Das Leben ist wie eine Perlenkette. Jede Perle ist unterschiedlich – so wie einzelne Erfahrungen – ohne dass jemals die Bedingung ausschließlich runder Perlen oder guter Erfahrungen eingeführt wurde. Auch wenn traurige Emotionen erwarten, gespürt zu werden und die Sicht mit einem Trauerschleier verdüstern, gibt es gute Erfahrungen. Sich lebendig zu fühlen, das Leben zu spüren, die Welt ertasten, erschmecken, erhören, erriechen, erraten und erfassen zu können, die Muster des Lebens zu suchen, Lebendiges zu beobachten, das Licht und den Wind zu kosten, sind gute Erfahrungen.
Die Bewunderung des Gutens nimmt mit jeder Schwierigkeit zu. Mit jeder Komplikation steigt die Verehrung des Simplen und Angenehmen. Auch schwere Zeiten bringen ihren Sinn. Je mehr Schlechtes meine Wahrnehmung schärft, desto eher erkenne ich Gutes, wenn es in den Raum meiner ausgestreckten Fühler schreitet.
Erfahrung ist die Palette des Lebens. Sie wird von Wirrungen des Schicksals bereichert, wie ein leuchtendes Caravaggio-Gemälde mit strahlend-schwarzem Hintergrund. Ihr Werk ist von Stumpfsinn und Eintönigkeit befreit. Das gegenwärtig Unverständliche ist das in der Zukunft sich lösende Rätsel, wenn sich der Platz der Dinge beweist und der Weitblick der Rückschau ungeahnte Zusammenhänge enthüllt. Das eine, das ich nie wollte, führte zum anderen und wieder anderen und irgendwann zu dem, was ich wollte, auch wenn ich gerne den Zusammenhang des Unangenehmen mit dem Angenehmen übersehe und es Anderer bedarf, mir zu sagen, dass diese gute Sache nur als Konsequenz von Dinge geschah, in deren Kette irgendwann besonders unerfreuliche Episoden standen.
Es ist leicht, das Gute auf sich zu beziehen und das Schlechte auf den unglücklichen Zufall. Verdienen wir das Gute und das Schlechte ist Pech? Oder ist das Gute auf das Glück und das Schlechte auf das Pech zurückzuführen, ohne dass es weiterer Begründung bedarf? Verdienen wir, was wir bekommen – im Schlechten wie im Guten – oder sind unsere Aktivitäten davon losgelöst? Wenn ich der Meinung bin, das Gute, das mir zustößt, zu verdienen, muss ich dann nicht auch der Meinung sein, das Schlechte, das mir zustößt, zu verdienen? Was ich glaube, ist dass was mir zusteht, das Gute und das Schlechte in voller Dosis, aber in Balance, ist. Das eine kann nicht ohne das andere und das Leben kann nicht ohne beide. Ein Leben in Zurückhaltung wäre eins ohne Freude.