Ununterbrochenes Glück
Ununterbrochenes Glücklichsein ist nicht nur dauerhaft unmöglich, es wäre auch langweilig. Ein konstanter Zustand setzt das Gleichbleiben der Verhältnisse, sei es im Inneren oder Äußeren, voraus. Ununterbrochenes Glück wäre gezwungen, monoton zu sein. Es würde sich jeden Tag aufs selbe präsentieren, ohne einer Überraschung dienen zu können. Nichts würde, nichts müsste und nichts könnte sich an seiner verlässlichen Präsenz ändern. Aufgrund seiner sicheren Verfügbarkeit und ununterbrochenen Anwesenheit würde das Glück an Wert verlieren. Es wäre nach einer Weile, wenn die Erinnerung an weniger angenehme Gefühle verblasst wäre, weder etwas außergewöhnlich Bemerkenswertes noch besonders Erstrebenswertes. Nichts muss erstrebt werden, in dessen Besitz man sich bereits befindet.
Das Glück lebt durch sein Gegenüber. Wie Yin und Yang eine Einheit sind, so vervollständigt die Unglückserfahrung die Glückserfahrung. Das unglückliche Gefühl vergrößert alle danach empfundenen Glücksmomente und erhebt die zuvor genossenen glücklichen Erinnerungen in den Adelsstand der Verklärung. Das Eine wird erst verständlich durch das Andere.
Wäre mein Leben eine fortlaufende Misere, würde der Kontrast zwischen Glück und Unglück gering ausfallen. Die seltene Abweichung vom Unschönen und Unangenehmen ließe mir meine trostlose Realität unglücklicher Monotonie normal erscheinen und kleinste gute Veränderungen würden in diesem Licht ein großes Glück bedeuten.
Es bedarf nicht langer, schrecklicher Phasen des Leidens im Unglück, um den Kontrast zu einem recht guten Leben zu schärfen. Aber dort, wo glückliche Monotonie herrscht, müssen ausreichend regelmäßig erschreckend unglückliche Eindrücke an die Zerbrechlichkeit des Glücks erinnern und die Wahrnehmung des Gutens erhalten.
Vorausgesetzt ein Kind startet behütet und glücklich ins Leben, rekalibriert sich mit jedem größeren oder kleineren erlebten Unglück das innerliche Glücksmessinstrument, sodass es mit der Zeit sensibler wird und mehr und mehr ehemals Alltägliches als Glück beginnt einzustufen. Ist es als Kleinkind noch völlig selbstverständlich, verlässlich betüdelt, beschenkt und umsorgt zu werden, wird es in den Folgejahren eher ungewöhnlich, dasselbe Maß an Aufmerksamkeit und Fürsorge seiner Umgebung auf sich zu ziehen; weshalb menschliche Zuwendung mit zunehmenden Alter und abnehmender Verfügbarkeit einen steigenden Stellenwert beginnt einzunehmen – bis die kleinsten Aufmerksamkeiten bei besonders sparsam mit Liebe Versorgten größte Verzückung und Dankbarkeit auszulösen vermögen.