Monster
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Monster

Ich schlafe in einem Zimmer, in dem mich die Moskitos zerstechen, und versuche mich unter der Bettdecke zu verstecken. Es summt um mein Ohr und manchmal, eher selten, schaffe ich es, eine der Mücken, wenn sie träge ist, weil sie bereits begonnen hat mein Blut zu saugen, zu erschlagen. Dabei schlage ich mir gelegentlich in mein eigenes Gesicht. Ich mag keine Flecken an den Wänden. Andere Leute richten ein Massaker in ihren Zimmern an, das einem Moskitofriedhof gleicht. Wir haben ein duftverströmendes Gerät, das man in die Steckdose steckt und von dem wir nicht wissen wollen, wie schädlich dessen Inhaltsstoffe sind, aber fast Mitte November haben wir aufgegeben es zu benutzen, in dem Glauben, dass die Moskitos langsam an Kälte sterben müssten. Meine Arme sind mit Stichen übersät, meine Hände erst recht und mein Gesicht kann sich der Sache auch nicht gänzlich entziehen.

Vielleicht wäre ich schöner mit mehr Geduld und weniger Moskitostichen in meinem Leben. Ich könnte so elegant sein, wie Lidia Aguilar aus „Las chicas del cable“ und mein Leben selbst in die Hand nehmen. In Netflixserien wie dieser, welche in den zwanziger Jahren spielt, sieht man nie, wie die Charaktere Sport machen oder sich um ihre Gesundheit kümmern. Vielleicht haben sie nie Sport gemacht und sahen trotzdem so schön aus. Oder eine körperliche Betätigung ist im Großen und Ganzen nicht verträglich mit eleganten Topfhüten und langen Mänteln, und noch weniger mit hochhackigen Schuhen und Nylonstrümpfen. Als ich klein war, dachte ich, ein Film repräsentiere das ganze Leben eines Menschen – jeden wichtigen Augenblick. Daher dachte ich auch, wie merkwürdig es sei, dass einige Charaktere nie schlafen oder essen, andere keinen Sport machen und niemand putzt je das Badezimmer.

Als ich 17 war, arbeitete ich in einem Café und die Damen dort fragten mich, was ich werden wollte. Damit meinten sie natürlich meinen Beruf und nicht mein Wesen. Wenn jemand fragt, was man werden will, ist nicht gemeint, was für ein Mensch man werden möchte, sondern was für eine Hülle – welchen repräsentativen Anzug man der Gesellschaft präsentieren möchte und natürlich nicht zu vergessen: wie man Geld verdienen zu gedenkt. Das geldverdienende Motto unterliegt allem. Es ist der Hintergrund aller zukunftsorientierten Fragen besorgter älterer Menschen, die einem das Beste wünschen und dabei die Forderung des absoluten Glücks mit der der finanziellen Stabilität vereinen. Meine Mutter hat immer gesagt: „Geld ist nicht alles“. Nun, natürlich ist es nicht „alles“. Nichts kann alles sein. Aber es ist sicherlich mehr als nichts. Nichts würde ja nun wirklich vermuten lassen, dass es sich um etwas vollkommen Belangloses handelt und davon kann bei Geld nun wirklich nicht die Rede sein. Immerhin ermöglicht das werte Geld einem die Möglichkeit, sich Freiheit zu kaufen – vielleicht nicht in jedem Land, wenn man eigentlich hinter Gitter gehört, aber für die freien Menschen bedeutet Geld Freiheit. Ohne Geld ist alles viel schwieriger und gewöhnlich sind die möglichen Optionen reduziert. Das heißt, Geld eröffnet Möglichkeiten. Wenn ich müde bin und mich um nichts kümmern will, kann ich mir ein teures Hotel in einer Stadt leisten, in der sonst mit normalen Bemühungen keine Unterkunft aufzutreiben ist, und es muss mich nicht stören, weil ich die Freiheit besitze, in dieser Hinsicht, zumindest für eine Nacht, zu tun und zu lassen, was ich will. Ist es nicht schön zu schalten und zu walten, wie man möchte? Ist das nicht der Reiz von Pippi Langstrumpf? Die Macht der zugegebenermaßen überschaubaren Welt Pippis Stadt liegt in den Händen eines Kindes, das zwar ihren eigenen Kopf, aber kein hartes Herz besitzt.

Mein Vorbild war Pippi Langstrumpf. Bei den Mottotagen zur Feier unseres Abiturs gab es einen Tag mit dem Titel „Helden der Kindheit“. Wahrscheinlich ist das wenig originell, aber es tut der Freude keinen Abbruch, wenn Lukas, der Lokomotivführer, Pippi Langstrumpf und weitere sich in der Cafeteria und dem Innenhof tummeln. Es bringt selbst unter den coolen, fast erwachsenen Teenagern eine Freude hervor, die nicht vergleichbar mit anderen Partys dieses Alters ist. Pippi Langstrumpf ist für mich weit weg. Es gab eine Zeit, da habe ich meine Haare orange angesprüht und mir Draht in die Haare geflochten und meines Erachtens das ganze Kostüm perfektioniert. Der Unterschied zwischen mir und Pippi ist, dass Pippi nicht desillusioniert war. Das klingt zwar recht dramatisch, aber man mache sich auf die Suche und finde einen Erwachsenen, der nicht in irgendeinem Bereich seines Lebens unter der Desillusion leidet, und siehe, was man findet. Es ist nicht schwierig zu erkennen, dass fast alle Menschen im Großen oder Kleinen an irgendeiner Stelle ihrer selbst eine Frustration in sich tragen, die den Kindern nicht und schon gar nicht Pippi inne war. Pippi glaubt an das Gute in der Welt und sie wird es nicht müde umzusetzen. Wer kann das schon über Erwachsene sagen? Gehört es nicht zum guten Ton in bestimmten Kreisen, eine Resignation an den Tag zu legen? So wie, wenn man sich über die Deutsche Bahn beschwert. Als guter deutscher Zugfahrer, der sich mit anderen Reiselustigen anfreunden will, bietet es sich an, ein Gespräch an einem kalten Bahnhof zu initiieren, das damit beginnt, wie spät die Züge „immer“ sind. Man muss fairer Weise dazu sagen, dass nicht jeder Zug immer zu spät ist, aber das eröffnet kein Gespräch, in dem sich Übereinstimmung finden wird. Es liegt also zu einem gewissen Grad in unserem Wunsch zur Gruppe zu gehören begründet, dass wir uns eine teils unzufriedene Grundstimmung aneignen müssen. Interessanterweise finde ich es ansonsten häufiger zu beobachten, dass sich Menschen zu Frohnaturen hingezogen fühlen. Weitere Ausführungen hierüber kann ich aus dem Grund, dass ich über keine ausgeprägte Frohnatur verfüge, nicht machen.

Wäre ich eine ausgeprägte Frohnatur, wäre mein Leben sicherlich recht anders und wenn es nicht anders wäre, würde es sich anders anfühlen. Ich konnte mich bisher damit rühmen, zumindest keinen starken Hang hin zu den Abhängen der Depressionen oder dauerhaften Verstimmungen zu verspüren. Aber zuletzt muss ich sehen, dass ich wanke und die leichte Verstimmung mich einzuholen versucht und ich nicht die Kraft verspüre schneller zu rennen als das schlechte Gefühl. Manchmal habe ich das Gefühl, es sei Zeit, dass es regnet. Wie schön ist es, in einem alten Steinhaus in den Bergen im Bett zu liegen und die Regentropfen auf dem Dach über einen landen zu hören. Früher konnte ich den Regen nicht ausstehen, außer ich war acht Jahre alt, es handelte sich um eine Sommergewitter und mein Bruder, meine Freundin und ich hüpften im strömenden, warmen Regen in den sich schnell anstauenden Pfützen der wenig befahrenden Wohnstraße auf und ab. Was für eine Freude es war im Badeanzug durch die regnende Welt zu springen und nicht einen Gedanken an Kälte oder Verkühlungen zu verschwenden. Später machte der Regen mich einfach nur traurig. Meine Oma pflegte in meiner Kindheit über das nasse Schauspiel zu sagen: „Der Himmel weint“ und ich finde, das ist eine eher traurige Anschauung. Jetzt sagt sie, die Erde brauche den Regen und er wäre gut für die Pflanzen, aber für mich bleibt etwas Trauriges am Regen hängen, so als wäre der Sonnenschein des Lebens unterbrochen.

Das Leben des Menschens und wahrscheinlich keiner lebenden Kreatur kann von andauernder Heiterkeit geprägt sein. Daher bin ich der Ansicht, der Kandidat, der sich mit seinem Regen am wohlsten fühlt, muss einer der Resolutesten sein. Ich muss dazu vielleicht hinzufügen, dass ich mich in keiner Hinsicht in einer großen Komfortzone mit meinem persönlichen Regen befinde und am liebsten den Regen weit hinter mir lassen würde. Es gibt Menschen, die sind mutig und es gibt Menschen mit einer ganzen Menge Anstrengung in ihren Körpern, um alles daranzusetzen, den Mut nicht demonstrieren zu müssen. Mein natürlicher Reflex macht mich Teil der zweiten Gruppe. Lieber unterwerfe ich mich dem Regime des Alltags als einen Tag durchzuweinen, was sicherlich auch damit zu tun haben muss, dass ich nicht weiß, wie man so viel weint und all diese Dinge sich selbst eröffnet, über die man weinen könnte. Wenn die Welt eins bräuchte, wäre es ein Tag des Weinens, an dem die Menschheit nichts tut, als über alles zu weinen, was des Weinens wert ist. Danach kämen wir zu einer Nüchternheit, die uns alle in einer Harmonie der Verlorenheit vereinen würde und so viele Probleme wären aus dem Weg geräumt. Wenn man geweint hat, sieht die Welt immer anders aus.

Ich bewundere Menschen, die weinen können. Es gibt so viele Dinge, über die ich weinen könnte, wenn ich nur wüsste wie. Mein Freund Mariano hat sich zwei Wochen auf einer spanischen Urlaubsinsel die Augen über seine frischgebackene Ex-Freundin ausgeweint, während er mit niemandem auf der Pferdefarm gesprochen hat. Was für ein Mut so einen Weg zu gehen. Ich hätte aus Höflichkeit mich dazu verpflichtet gefühlt, mit den anderen Menschen zu kommunizieren und meine potenziell herausdringenden Gefühle als ungewollte Zumutung für den Rest der Zivilisation gehalten. Was nicht raus kann, muss drinnen bleiben und was drinnen bleibt, muss mich beschweren. Ich kann dir nicht sagen, wie schwer ich mich fühle. Manchmal würde ich am liebsten nicht aufstehen und der Grund weshalb ich aufstehe, besteht darin, dass ich an einer mächtigen „Fear of missing out“ leide, besonders wenn die Sonne scheint. Dies ist nicht zu verwechseln mit der Freude fürs Leben und die Sonne. Stattdessen handelt es sich mehr um einen Zwang, glücklich sein zu müssen. Ich kann mir nicht erlauben, unglücklich zu sein und das liegt daran, dass das für „die meisten Menschen“ zu unbequem wäre. Wenn jemand einen fragt, wie es einem gehe, dann hat diese Person in den seltensten Fällen ein Interesse daran, vom inneren Regen zu hören und einige Fragesteller machen dies in ihrer Reaktion so deutlich, dass ich mich als Enttäuschung fühlen muss, mit keiner besseren Antwort habe aufwarten zu können. Ich weiß nicht, ob irgendjemand anders je so fühlt.

Was ich weiß, ist dass es jede Menge Menschen gibt, die sagen, was sie nicht denken und sagen, was sie nicht fühlen. Dieser Umstand verleitet mich zu glauben, dass ich möglicherweise nicht die Einzige bin, die sich der gesellschaftlichen Glückszensur unterworfen fühlt. Vielleicht bin ich ein Monster unter meinem Schein. Manchmal glaube ich, dass je mehr Energie ich in meinen Schein stecke, das Monster in mir wächst, bis ich vielleicht irgendwann gar nicht mehr ich selbst bin und innerlich zu einem Diktator werde. Tatsächlich ist meine kindische Vorstellung die, dass ein Diktator daraus entsteht, dass man einen Menschen nicht hat sein lassen. Das setzt natürlich ein pippi-langstrumpfesques Weltbild voraus, in dem der Mensch an sich gut ist und nur durch äußere Zwänge böse wird – nämlich in dem Moment, in dem der Zwang das natürliche (und gute) Sein unterbindet. Ein Mensch, der selbst nicht sein darf, kann andere Menschen nicht sein lassen. Leben und leben lassen sollte unser aller Motto sein.

Florenz
11.11.2022
Copyright Hannah Knaack-Völker
Alle Rechte vorbehalten.

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