Wahrheit
Schwarzer Himmel, Sichelmond. Lichter auf dem Berg. Wolkenschleier um den Mond. Kleiner Wagen, Orion, der Winterhimmel, Berge, Meer. Ich will nur Musik spüren. In ganz La Spezia gibt es keine Musik. Die Watteschleier ziehen sich über den Himmel bis alles weiß ist, bis alles grau ist, bis die Nacht beginnt und der Himmel anfängt zu weinen.
Nur in den Bergen wird die Nacht dunkelschwarz. In der Stadt ist das Licht gelb. Man kann schreiben, ohne dass man ein Licht braucht. Alle Lichter, die immer an sind, sind besonders beißend. Es gibt Dinge, die darf man tun, und Dinge, die darf man nicht tun. Man kann sich sein ganzes Leben an die Regeln der anderen und die selbst erdachten Regeln halten. Man kann sich so vielen Zwängen unterwerfen, dass ich verstehe, warum Leute Alkoholiker werden. Es erlaubt einen temporären Ausflug ins Niemandsland der Zwanglosigkeit. Zu fühlen, was man fühlt, ohne sich dabei restriktiert zu fühlen, ist ungewöhnlich.
Sind wir nicht alle unserem Leben, unseren eigenen Erwartungen unterworfen? Werden Erwartungen nicht geboren durch die Menschen, die wir lieben? Kann sich nicht niemand den Erwartungen der Menschheit und des Lebens im Allgemeinen entziehen? Glücklich der Mensch, der ohne Erwartungen lebt.
„Zu sein oder nicht zu sein“, schrieb Shakespeare. Unser Zeitalter dreht sich um „zu haben oder nicht zu haben“. Was zu haben, ist begehrenswert? Was zu haben, ist es wert zu leben? Was zu haben, ist wichtig? Was ist wichtig? Was bringt Spaß? Wie wollen wir unser Leben verbringen? Streben wir nur nach dem persönlichen (privaten) Vorteil? Ich glaube nicht, dass der Mensch glücklich wird durch seinen privaten Vorteil. Der private Vorteil dient nur so lange, wie er notwendig ist. Sobald Geld für Luxus veranlasst wird, wird der Mensch dadurch nicht glücklicher, sondern beschäftigter. Niemandem bringt es was, etwas zu haben, dass er nicht braucht.
Das Leben ist eins der Emotionen und Gefühle kauft man nicht. Gefühle sind etwas, das anderer Menschen bedarf, die ihrem Gegenüber in ihrem Wesen ehrlich gegenübertreten. Was bringt das Täuschen und Erscheinen? Wir sind, was wir sind, und können es weniger ändern, als wir es uns wünschen mögen.
Vielleicht bin ich allein, aber ich kann es nicht ändern. Vielleicht bin ich verrückt, aber wer ist es nicht? Alle anderen zeigen nur eine präsentative Seite, um über ihre Macken hinwegzutäuschen. Ist nicht der ehrliche Mensch eine Zumutung und zugleich eine bewundernswerte Figur unserer Zivilisation?
Die Ehrlichkeit kann alle Formen von Wunden erzeugen und doch ist sie nur, was sie ist, und nichts als ein ehrliches Gefühl; nichts als etwas, das der Wahrheit entspricht. Ist nicht die Wahrheit bewundernswert – etwas, das nicht jeder schafft, in sein Leben zu integrieren; etwas, das eine Waffe und eine Tugend zugleich ist? Ist nicht eine solche Waffe etwas, das wir alle brauchen? Muss nicht das Gute am Ende sich in der Welt mehr etablieren als das Böse? Ich glaube, das Gute kann nur gewinnen, weil die Wahrheit dem Guten in die Hände spielt, auch wenn die Wahrheit meistens schwer verdaulich ist.
Es gibt keine einfachen Wahrheiten. Es gibt nur einfache Marketingstrategien. Die Wahrheit ist ein Schlag in den Magen, aber nicht tödlich, nicht unverwindbar, nur schwer verdaulich. Die Wahrheit ist das, womit wir uns alle anfreunden müssen zu leben. Ohne die Wahrheit ist das Leben weder schmerzhaft noch lebenswert. Alles wofür der Mensch lebt, ist ein Streben nach Erkenntnis und der Einzelne sucht sein Glück auf verschiedenste Art und Weise.
La Spezia
04.10.2022
Copyright Hannah Knaack-Völker
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