„Zerdenken“ & Durchdenken
Wenn das Wort „zerdenken“ die Bedeutung nicht nur ausführlicher Betrachtung, sondern eine tatsächlich zerstörerische Qualität besitzen sollte, ist es besser, die schönen Dinge des Lebens zu bedenken, zu überdenken, zu durchdenken und sie sich auf der Zunge und im Geist zergehen zu lassen ohne bei ihrer ausführlichen Betrachtung einen Angriff auf sie auszuführen. Nicht zerdacht werden sollten die positiven Dinge des Lebens, weil es allzu einfach ist, allem einen fahlen Beigeschmack anzuhaften; und sei es, dass etwas Gutlaufendes gerade weil es gut läuft nicht mehr lange gut laufen kann. Stattdessen muss man üben dem Schlechten etwas Gutes abzugewinnen, um herauszufinden, ob es möglich ist.
Kein blindes Auge hilft unangenehme Empfindungen loszuwerden. Sie müssen analysiert und zerdacht werden bis sie entweder verschwinden oder beweisen der rationalen Kritik ein berechtigtes Verteidigungsbollwerk der Legitimation entgegenhalten zu können, das sie in einem begrenzten Rahmen objektiv rechtfertigt. Ihr Rahmen muss eine Verhandlung über seine Größe durchstehen, wenn die Unruhe beginnt sich auszubreiten und den Platz von Ruhe und Gelassenheit annektieren will. Nur akzeptiert werden, kann berechtigte und nützliche Unruhe. Auch berechtigte Angst ist nicht unbedingt hilfreich.
Die Unruhe muss getestet werden: ob sie berechtigt ist, ob sie nötig ist, ob sie nützlich ist, was sie bezwecken will, wie sie sich beruhigen kann. Auf gemeine und unfreundliche Gedanken und schlechte Gefühle gerichtete herausragende zerdenkerische Fähigkeiten dürfen sich dort verausgaben, wo sie nützlich sind, bevor sie in einer unbeobachteten Millisekunde versehentlich besseres Gedankenmaterial unter Beschuss nehmen und zerschießen, was der Erhaltung wert gewesen wäre.
Gutes zu kennen – und das erfordert das Durchdenken desselben – macht sicher auf der Suche nach mehr davon. Schlechtes zu zerdenken testet seine Berechtigung und entlarvt im Grunde unwesentliche, aber monströs verkleidete Harmlosigkeiten. Mit dem Durchdenken erarbeitet sich der Geist Neues, durch Zerdenken wird Bestehendes zermalmt. Im Zweifel muss ich wissentlich zwischen den schlechten und den guten Gedanken diskriminieren, um die einen zu zerstören und die anderen zu kultivieren.
Grauen zu durchkauen, es wiederzukäuen, ändert nichts an den Tatsachen und führt zu keiner neuen Erkenntnis über das Erlebte. Man muss damit abschließen oder es zerkauen – das wäre nützlicher – und zerdenken ohne in der Endlosschleife des gedankenlosen Denkens verlorenzugehen. Das gedankenlose Denken bereichert kein weiteres Denken und erschließt keine neuen Perspektiven, weil es neue Gedanken nicht zulässt. Im Kreis zu denken fördert immer dieselben Gedanken zutage. Man kann dieses nutzlose, sinnentleerte Schlaufendenken ebenso gut unterlassen und aufhören es Denken zu nennen.
Neue Gedanken zu erfinden kostet Mühe. Wenn das Denken Arbeit ist, ist die Schlaufe weit entfernt. Es ist anstrengend etwas Ungedachtes zu erdenken entgegen aller Gewohnheit. Ein frischer Gedanke beschert die Hoffnung auf eine Entwicklung in der Geisteshaltung. Man kann sich natürlich mit Büchern behelfen und Gedanken anderer Leute, aber die Arbeit bleibt die gleiche: Alle Gedanken müssen geprüft werden; ob sie Sinn ergeben und zu anderen Gedanken passen; ob der Gedanke sich im Leben beweist; denn sonst ist die Inspiration der fremden Gedanken nur gedankenloses „Nach-Denken“ anderer Leute Gedanken ohne Bezug zum realen, lebenden Denken und frei von Wirkung im realen Leben.